Fett auf der Flucht

Timo Wesolowski hatte kurz nach seinem dreißigsten Geburtstag die dünne Linie zwischen Dicksein und Fettsein überschritten, und da er keinerlei Anstalten machte, an diesem Zustand etwas zu ändern, sahen sich seine Eltern gezwungen, ihn bei „Fett auf der Flucht“ anzumelden.

„Garantierter Gewichtsverlust“, erklärte Vater Wesolowski beim Pfingstsonntagsfamilienkaffeekränzchen.

„Ich will aber gar kein Gewicht verlieren“, entgegnete Timo. „Ich hab keinen Bock auf so Fitness-Kram.“

Mutter und Vater Wesolowski wechselten einen vielsagenden Blick. „Hör es dir wenigstens mal an“, sagte der Vater.

Timo seufzte und nahm einen Mund voll Schwarzwälder Kirschtorte.

„Also. Die haben da so Leute, so Angestellte, die lauern dir auf…“

„Die waff?“, rief Timo und stieß dabei einen Sprühregen von Sahne aus.

„…die lauern dir auf, wenn du es am wenigsten erwartest und bedrohen dich mit einem Messer oder so. Und wenn du nicht sofort wegläufst, schlitzen sie dich auf.“

Timo schaute seinen Vater ausdruckslos an.

„Oder verletzen dich oder so, keine Ahnung. Auf jeden Fall tun sie dir weh.“

Timo schluckte herunter und sagte: „Und bei so was soll ich mitmachen?“

„Sie verletzen dich ja nicht in jedem Fall“, sagte die Mutter und legte Timo eine Hand auf den Unterarm. „Du musst halt nur weglaufen.“

„Und beim Weglaufen verbrennst du Unmengen an Kalorien“, schloss der Vater.

Eine Weile war Ruhe. Dann legte Timo sorgfältig seine Kuchengabel auf den Teller und sagte: „Ihr habt ja wohl ne Vollmeise.“

„Timo!“ Vater Wesolowski schlug mit der flachen Hand auf den Kaffeetisch, dass die Tassen klirrten. Die Mutter sah aus, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen.

Etwas sanfter fuhr Timo fort: „Ich meine… vielen Dank und so, ist sicher lieb gemeint, aber es ist nun mal eine absolut beschissene Idee.“

Der Vater war währenddessen aufgestanden und hatte ein eng bedrucktes Schriftstück geholt. „Du musst nur hier unterschreiben.“

„Niemals unterschreib ich das“, sagte sein Sohn. „Ihr meldet mich jetzt bitte sofort bei dem Laden ab, sonst…“ Timo stockte, suchte einen Moment nach der richtigen Drohung und entschied sich, als er keine fand, einfach nur grimmig mit dem Kopf zu nicken und demonstrativ einen neuen Happen Kirschtorte in seinen Mund zu stopfen.

~

Als Timo Wesolowski am nächsten Tag gegen 17 Uhr 25 seine Arbeitsstelle verließ und zur knapp zehn Minuten entfernten Bushaltestelle schlurfte, bemerkte er, dass jemand ihm in einem immer geringer werdenden Abstand folgte. Zunächst glaubte er nicht daran, dass es sich bei dieser Person um einen Angestellten von „Fett auf der Flucht“ handelte, schließlich hatte Timo das Dokument, das sein Vater ihm präsentiert hatte, nicht unterschrieben. Wahrscheinlich nur einer, der es sehr eilig hat, dachte sich Timo Wesolowski, der es gewohnt war, dass bei seinen schwankenden Gängen durch die Stadt die Jogger nur so rechts und links an ihm vorbeisausten. Mit diesem Glauben hatte es ein Ende, als der Mensch aufgeschlossen war, sich mit einem Mal von hinten an seinen Leib drückte und Timo ein spitzes Kinn auf die Schulter legte. „Lauf los, Fettsack“, zischte ihm eine heisere Männerstimme ins Ohr. Der warme Atem des Herrn roch nach gebratenen Zwiebeln. Timo spürte zwischen den Schulterblättern einen scharfen Gegenstand gegen seine Wirbelsäule drücken. Ein Messer! Hundert Schritte vor sich sah er den Hunderteinundsiebzigerbus in die Haltestelle einfahren. Da sprintete Timo Wesolowski los – soll heißen, er verfiel in eine Art taumelnden Trott. Der Mann blieb ihm auf den Fersen und piekste ihn mehrmals mit dem Messer in den Rücken. Mit fuchtelnden Armen gestikulierte Timo dem Busfahrer zu, er solle warten – was dieser tat, bis Timo, pfeifend und japsend, in das Fahrzeug sprang. Oder besser: hüpfte. Der Messermann blieb draußen und drohte ihm operettenhaft mit der Faust.

„Diese Schweine“, brachte der von Schweiß klebrige Timo zwischen zwei keuchenden Atemzügen hervor. Eine ältere Buspassagierin sah ihn ziemlich verhärmt an.

~

Timo Wesolowski fuhr nicht zu sich nach Hause, sondern direkt zur Wohnung seiner Eltern. Als auf sein Klingeln der Vater die Tür öffnete, schrie Timo: „Ihr habt meine Unterschrift gefälscht!“

„Psst, nicht so laut.“ Der Vater zog Timo in die Wohnung, um dann zu sagen: „Ich weiß nicht, wovon du redest.“

„Hah!“, rief Timo und wischte sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. „Mir hat eben gerade ein Typ mit einem Messer aufgelauert und mich um den Block gejagt. Sag bloß, davon weißt du nichts.“

„Davon weiß ich nichts.“ Der Vater musterte seinen schwitzenden Sohn von oben bis unten.

„Hah!“, rief Timo wieder. „Ich zeig euch an. Ich zeig euch alle beide an, wegen Unterschriftenfälschung und, äh, arglistiger Täuschung.“

„Worum geht’s denn?“ Die Mutter kam aus dem Wohnzimmer getrippelt. Timo sah ihr an, dass sie genau wusste, worum es ging.

Er hielt dem Vater seinen wurstigen Zeigefinger unter die Nase. „Wenn das noch einmal vorkommt, geh ich direkt zur Polizei und zeig euch an.“

Vater Wesolowski verdrehte die Augen, und die Mutter sagte: „Nun beruhige dich doch erst mal. Zieh die Schuhe aus und komm-“

„Haben wir uns verstanden?“, schrie Timo.

Nach einer Pause zuckte der Vater mit den Schultern. „Ich weiß immer noch nicht, wovon du redest.“

Timo schnaubte erbost und verließ die Wohnung. Zu Hause musste er seine Kleidungsstücke aufs Wäschegestell hängen, so durchgeschwitzt waren sie.

~

Am nächsten Tag zögerte Timo Wesolowski erfolgreich seinen Feierabend um zwei Stunden hinaus. Als er schließlich das Gebäude verließ, blickte er wachsam um sich. Der Messermann war nirgends zu sehen. Schneller als sonst watschelte Timo zur Bushaltestelle und stieg ein. Schon wieder klebte der Schweiß unter seinen Achseln und am Rücken. Auch den Weg vom Bus zu seiner Einzimmerwohnung legte Timo zügig zurück. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen ließ. Darauf entfuhr ihm sogar ein nervöses Lachen über seine eigene Ängstlichkeit.

„Da bist du ja endlich, Fettsack“, hörte er da hinter sich eine heisere Männerstimme schnarren. Timo wirbelte herum. Es war der Messermann, der, mit Timos noch immer feuchtem Hemd vom Vortag in der Hand, im Rahmen der Küchentür lehnte.

„W-wie sind Sie hier reingekommen?“, schrie Timo. „Raus aus meiner Wohnung!“

Der Messermann keckerte höhnisch und hob seine andere Hand. Ein schuhlöffellanges Messer kam zum Vorschein.

„Machen Sie, dass Sie rauskommen!“, kreischte Timo mit wackliger Stimme.

Der Messermann nahm dies zum Anlass, die Klinge direkt unter dem Kragen des Hemdes anzusetzen und es mit einer routinierten Bewegung in der Mitte durchzusäbeln.

„D-das bezahlen Sie mir!“, fiepte Timo. „Sechzig Euro!“

Der Mann zuckte nur kurz mit dem Handgelenk, das Messer sirrte durch die Luft und steckte eine Millisekunde später zwei Wurstfingerbreit neben Timos Kopf vibrierend in der Wohnungstür.

Timo kreischte auf, riss die Tür auf und strauchelte hinaus, Richtung Fahrstuhl. In Panik hämmerte er auf den Knopf, doch die Kabine war zu langsam. Der Messermann hatte bereits seine Klinge aus der Wohnungstür gezogen und schritt – ohne besondere Eile – auf ihn zu.

Etwa in diesem Moment wurde sich Timo der Absurdität seiner Situation schmerzhaft bewusst. Vielleicht war das Schmerzhafte daran auch nur die Einsicht, dass er, um dem Messerstecher zu entkommen, die Treppen vom fünften Stock ins Erdgeschoss hätte nehmen müssen. Jedenfalls breitete er die Arme aus und schrie dem Messermann entgegen: „Na los! Stich mich ab! Trau dich!“

Die Tür zu Timos Nachbarwohnung schwang auf, im Rahmen stand der bullige Herr Vandenberg. „Was ist hier los?“

„Fett auf der Flucht“, gab der Messermann zurück, der jetzt nur noch ein paar Schritte von Timo entfernt war.

„Ach so“, sagte Herr Vandenberg und schloss die Tür wieder.

Der Messermann stand nun direkt vor Timo und hob fragend die Augenbrauen.

„Stich doch zu!“ Timos Blick flackerte. „Los, stich mich ab!“

Die Klinge pfiff durch die Luft und der Messermann sagte: „Zufrieden?“

Timo schaute an sich herab. Das erste, was er herausbrachte, war: „Mein Hemd!“ Dann sah er genauer hin. „Blut!“

Der Messermann hatte Timo tatsächlich verwundet. Nur ein Schnitt quer über den Wanst, gar nicht tief, aber genug, um Timo in helle Panik zu versetzen. „Ich… blute!“

Der Messermann stieß einen amüsierten Laut aus, und Timo rannte los. Mit (für seine Verhältnisse) atemberaubender Geschwindigkeit hoppelte er die Treppe hinab, zur Haustür hinaus und die Straße runter, der Messermann wenige Schritte hinter ihm. Einige Passanten drehten sich nach dem blutenden Dicken um, aber als der Messermann ihnen im Vorbeitraben zurief: „Fett auf der Flucht!“, sagten sie „ach so“ und gingen beruhigt weiter. Nach einigen hundert Metern merkte Timo, dass neben ihm ein Polizeistreifenwagen fuhr. Schrittempo. Der Fahrer ließ das Fenster runter und fragte raus: „Alles okay?“

„Helfen Sie mir!“, krächzte Timo. „Ich werde verfolgt!“

„Fett auf der Flucht!“, rief der Messermann von hinten.

„Ach so.“ Der Polizeibeamte lächelte verschmitzt. „Hab ich meinem Bruder zum Geburtstag geschenkt. Zwanzig Pfund hat er abgenommen.“

„Echt?“, fragte sein Beifahrer.

„Unglaubliches Programm“, sagte der Fahrer und wandte sich wieder dem japsenden und weinenden Timo zu. „Also: weitermachen, Junge. Du schaffst es!“

„Halt!“, ächzte Timo, doch der Mann hatte bereits wieder das Fenster hochgelassen und drückte aufs Gas. Wenige Schritte hinter sich hörte Timo das heisere Lachen des Messermannes.

Timo lief mindestens einen Kilometer, als er einen Blick über die Schulter wagte und feststellte, dass der Messermann nicht mehr da war. Am ganzen Leib zitternd fiel er auf alle viere und übergab sich auf den Bürgersteig.

~

Knapp vier Wochen später, abends. Timo war gerade dabei, in eine dunkle Ecke seiner Wohnung gekauert, leise vor sich hinzuwimmern, als sein Handy klingelte.

„Ich bins“, sagte Vater Wesolowski. „Ich wollte dir nur sagen, das Fett-auf-der-Flucht-Programm ist heute zu Ende gegangen.“

„Mhm.“ Timo schniefte.

„Und, äh, ich hätt nicht gedacht, dass du bis zum Ende durchhältst. Wieviele Kilo hast du in dem Monat abgenommen?“

„Fünfzehn“, sagte Timo tonlos.

„Fünfzehn sagt er, Evelyn. Fünfzehn Kilo. Genau. Äh, schönen Gruß von deiner Mutter soll ich sagen. Und… wir sind stolz auf dich, Sohn.“

„Danke“, wisperte Timo.

„Oh, und noch was, ich hab hier noch jemanden, der mit dir sprechen will. Moment-“ Vater Wesolowski übergab den Hörer.

„Hier ist König“, sagte eine heisere Stimme, die Timo krampfhaft zusammenzucken ließ. „Ich war die letzten vier Wochen Ihr Persönlicher Trainer.“

Timo saß zitternd und mit aufgerissenen Augen da.

„Ich wollt Sie auch noch mal beglückwünschen zu Ihrem Erfolg und muss sagen, Sie waren ein besonders guter Klient.“

Der Mann wartete auf eine Antwort, doch Timo gab keinen Laut von sich.

„Wissen Sie, seit zwei Jahren mach ich nun schon diesen Job“, fuhr Herr König fort, doch Timo unterbrach ihn.

„Warum haben Sie das Geld nicht genommen?“

„Was?“

„Na, in der ersten Woche, da hab ich Ihnen hundert Euro gegeben, damit Sie aufhören. Warum haben Sie das nicht angenommen?“

„Weil ich nicht bestechlich bin. Ich finde, das ist eine gute Tat, die wir bei ‚Fett auf der Flucht‘ machen. Quasi so wie die Leute im Jobcenter oder so. Das ist für mich schon Lohn genug.“

„Verstehe“, sagte Timo.

„Na ja, wenn sie wollen“, fuhr König in jovialem Ton fort, „können Sie mit den hundert Euro ja zwei neue Hemden kaufen. Für die, die ich – beschädigt habe. Allerdings jetzt ein paar Nummern kleiner, was? Hahahaha.“

Timo schwieg.

„Wie auch immer“, sagte König, der von Timos Undankbarkeit etwas peinlich berührt wirkte, „ich wollt nur sagen: nichts für ungut, ne? Ich meine, was zählt ist doch das Endergebnis, oder?“

„Da haben Sie recht“, sagte Timo und drückte die Auflegtaste.

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