Der Sperling

Sperling

Das Morgenlicht schien schräg durch das Geäst der großen Linde, als der Sperling sein helles Gefieder schüttelte, das aussah wie von der Sonne ausgebleicht und zu seinen Genossen sagte: „Heute, Herrschaften, ist ein besonderer Tag.“

„So?“, fragte ein anderer Sperling.

„Jawohl! Ich bin zuversichtlich, dass mein Balzgesang heute endlich den verdienten Erfolg zeitigt.“

Die anderen Sperlinge sahen einander unbehaglich an, schließlich stand einer von ihnen auf und hüpfte zu unserem Sperling hin. „Hör mal“, sagte er. „Ich will ja nichts sagen, aber meinst du nicht, es wäre langsam mal… genug?“

„Wie, genug?“ Unser Sperling hielt im Gefiederrichten inne.

„Na, mit deinen Amsel-Ambitionen. Ich meine…“ Der Sperling warf einen Blick zurück zu seinen Artgenossen, die gespannt der Unterhaltung lauschten. „Ich meine, ist es nicht mittlerweile offensichtlich, dass es – nun ja! – dass es nichts bringt, so zu tun, als wäre man eine Amsel?“

„Ich tue nicht so, als wäre ich eine Amsel.“, sagte unser Sperling mit nachsichtiger Stimme. „Ich versuche nur so zu singen, als wäre ich eine Amsel. Originalität, mein Freund. Der Originelle hat gegenüber seinen Artgenossen einen Vorteil.“

Der andere Sperling räusperte sich. „Du musst aber zugeben, dass dir deine Originalität bisher nicht gerade viel gebracht hat. Sieh doch mal: Selbst dein verkrüppelter Bruder hat im letzten Jahr eine Balzpartnerin abgekriegt.“ Er wies mit dem Kopf auf ein grausig verwachsenes Spatzenwesen, das gerade versuchte, sich am Stamm des Baumes hoch auf seine unterschiedlich langen Beine zu hieven.

„Und was für ein Trumm das gewesen ist.“ Unser Sperling schnaubte herablassend. „Nun, sei es, wie es sei, ich bin dann mal weg.“

„Warte!“ Der andere Sperling seufzte. „Denk doch einmal nach! Wie hoch ist die Lebenserwartung von uns Sperlingen? Ein Jahr? Drei Jahre? Du kannst sie doch nicht verplempern, indem du…“ Aber der andere war bereits abgeflogen.

Gegen Mittag ließ sich eine Amsel neben unserem Sperling auf dem Birkenast nieder. Der Sperling hielt in seinem Gesang inne.

„Entschuldigung“, sagte die Amsel, „aber ich kam nicht umhin, Ihren Gesang zu bemerken.“

„Danke“, sagte der Sperling, und seiner Stimme war die Aufregung anzuhören.

„Ich musste einfach vorbeifliegen und schauen, wer da so singt. Erst dachte ich, es wäre eine verletzte Amsel in Not…“

Der Sperling fuhr auf. „Sie dachten, ich wäre eine Amsel?“

„…doch dann musste ich überraschenderweise feststellen, dass Sie ja nur ein Spatz sind.“

„Sperling“, korrigierte der Sperling. „Sie dachten also tatsächlich, ich wäre eine Amsel?“

„Nun, ich dachte, Sie wären eine Amsel, die von einer Katze angefallen oder von einem Steinwurf getroffen wurde und jetzt mit letzter Kraft um Hilfe schreit.“

„Moment, Moment.“ Der Sperling hoppelte etwas näher zur Amsel hin. „Sie flogen so Ihres Wegs, dachten sich nichts Böses, hörten meinen Gesang und dachten, oh, eine Amsel?“

„Ja, schon“, sagte die Amsel ungeduldig. „Aber, wie gesagt, ich dachte, Sie wären eine tödlich verwundete Amsel mit zerstörten Stimmbändern!“

Aber eine Amsel.“

Die Amsel schaute den Sperling prüfend an. Dann sagte sie: „Entschuldigung, gestatten Sie die Frage, warum um Himmels Willen Sie hier sitzen und singen wie eine halbtote Amsel? Ich meine, Sie in Ihrer Eigenschaft als Spa-, äh, Sperling.“

„Ich habe“, sagte der Sperling und warf sich in die Brust, „meine Gesangstechnik über Monate verfeinert. Stimmübungen gemacht. Das richtige Atmen geübt. Und wenn es stimmt, was Sie sagen – woran ich übrigens keinerlei Zweifel hege – dann bin ich meinem Ziel, lieblich wie eine Amsel zu singen, ein Stück näher gerückt.“ Der Sperling nickte vielsagend.

Eine Pause entstand, in der die Amsel den Sperling irritiert anblickte. Dann sagte sie: „Aber… warum?“

„Das fragen Sie noch? Gerade Sie als Amsel, deren Gesang zum Schönsten gehört, was eine Vogelkehle in diesen Breiten hervorzubringen imstande ist, Sie fragen mich, warum ich wie eine Amsel singen will?“

„Ja, das tue ich“, sagte die Amsel. „Für uns Amseln erfüllt der Gesang ja vor allem einen Zweck – ebenso wie die Geräusche, die Ihre Artgenossen zu produzieren pflegen. Sie wissen, was ‚Fortpflanzung’ ist?“

„A-ha!“, rief der Sperling. „Womit wir auch schon beim Thema wären. Sagen Sie…“ Er rückte noch ein Stück näher an die Amsel heran. „Da Sie nun durch meinen Gesang auf mich aufmerksam geworden sind, wären Sie so gütig und würden mich… na, Sie wissen schon… dürfte ich Sie freundlicherweise begatten?“

Die Amsel sah den Sperling fassungslos an. „Bitte?“

„Nur um der Fortpflanzung willen, versteht sich.“

„Ich glaube, ich höre nicht recht.“ Die Amsel sah sich um, ob ein anderer Vogel dieses Gespäch mitbekommen hatte.

„Nun tun Sie nicht so.“, sagte der Sperling. „Sie wollen es doch auch.“

„Ich, äh, fliege dann mal weiter.“, sagte die Amsel. „Und, äh, alles Gute mit Ihren… Ambitionen.“

Der Sperling blickte der wegfliegenden Amsel eine Weile düster nach. Dann hub er wieder mit seinem Balzgesang an.

„Tja, meine Artgenossen!“, rief der Sperling, als er am Abend ins Lindenquartier zurückkehrte. „Ihr ratet nicht, was mir heute passiert ist.“

Die anderen Sperlinge, die sich bereits zum Schlafen aufgeplustert hatten, hoben resignierend die Köpfe. „Na, was denn diesmal?“

Unser Sperling baute sich bedeutungsvoll vor ihnen auf. „Heute, meine Herren, hat mich tatsächlich eine Amsel angesprochen und gefragt, ob ich mit ihr kopulieren wolle. Ich lehnte natürlich ab. Erstens war sie ziemlich zerfleddert und unter meinem Niveau, zweitens sollte man niemals gleich das erste Angebot annehmen.“

Die Sperlinge warfen einander vielsagende Blicke zu. „So.“

„Deshalb habe ich beschlossen“, sagte unser Sperling, „morgen meine Anstrengungen zu verdoppeln. Wäre doch gelacht, wenn ich mir mit etwas besserer Technik nicht eine erstklassige Amsel klarmachen sollte, nicht?“

„Was immer du sagst“, seufzte einer der anderen Sperlinge. „Jetzt pluster dich auf und sei still.“

„Banausen“, sagte unser Sperling und kauerte sich demonstrativ ein Stück von den anderen entfernt auf den Ast.

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