Biographie

Allein an der Bar

Christian Luscher kam am 10. Juli 1900 unter dem Namen Carlos Diego José Francisco de Paula Juan Nepomuceno María de los Remedios Cipriano de la Santísima Trinidad Ruiz y Luschmann als Sohn des Kaufmanns Johannes Gotthilf Luschmann und seiner Frau Albine, geb. Körtzinck, in Reval zur Welt. Er hatte drei Geschwister: den späteren Geschichtswissenschaftler Arnulf C. Luschmann (*1903), das „Nesthäkchen“ Françoise Luschmann (*1905) und den 1944 im KZ ermordeten Schwulenrechtler Bunny Luschmann (*1920). Die frühen Jahre Luschers verliefen ungewöhnlich. Da die Eltern den Tod ihres Hundes Jablonsky nicht überwinden konnten, sollte der junge Carlos diesen ersetzen, wurde also in seinen ersten Lebensjahren als Hund erzogen. Bilder aus jener Zeit zeigen ihn nackend, auf allen Vieren, mit Würgehalsband. Auch später schenkten die Eltern dem jungen Carlos Luschmann wenig Beachtung, da er körperlich stark verwachsen war und aufgrund seiner Versunkenheit in sich selbst als schwachsinniges Kind abgestempelt wurde.

1906 wurde Carlos Luschmann ins Hôpital Salpêtrière in Paris eingeliefert, da sein Geisteszustand den Eltern unerklärlich wurde. Als Luschmann sein siebzehntes Lebensjahr vollendet hatte, wurde er in die Freiheit entlassen und bemühte sich sogleich in München um ein Studium der Jurisprudenz, zu welchem er allerdings nicht zugelassen wurde. Zu dieser Zeit lernte er auch Bert Brecht kennen, der ihn 1924 nach Berlin holen sollte. In München traf Luschmann auch die vier Jahre jüngere Gräfin Josephine Dunnier de Beum-LeMange, mit der er eine geheime Liebschaft einging und die in schneller Abfolge seine Söhne Carlos Junior, genannt Beißer, Madeleine, genannt Törtchen und Clyde Luschmann zur Welt brachte. Kurz vor seiner Abreise nach Berlin verstritt Luschmann sich auf brutalste Weise mit Josephine und ließ sie in München zurück, zusammen mit den Söhnen Carlos Junior, Madeleine und Clyde, die er nicht schätzte.

Luscher und Familie, um 1923

Luscher und Familie, um 1923

In Berlin angekommen, kam es zu einem folgenschweren Streit mit Brecht darüber, wer von beiden am Bahnhof Luschmanns Koffer tragen solle, nach dem sich Luschmann von Brecht lossagte und hernach einer seiner erbittertsten Kritiker werden sollte.
Er nahm 1924 das Pseudonym „Christian Luscher“ an (ein Anagramm seines Familienmottos, „Sachlich Irres tun“; lateinisch: „realis insanire“) und versuchte vergeblich, bei verschiedenen Berliner Zeitungen Fuß zu fassen. Bei einem Zusammentreffen mit Kurt Tucholsky in einem Berliner Kaffeehaus, in welchem Luscher verzweifelt Anschluss an die dortige Künstler- und Intellektuellenszene suchte, soll dieser ihm gesagt haben: „Probiernses doch mal mit Schuheputzen“.

1928 kam es zur berüchtigten und verhängnisvollen Schlägerei mit Alfred Döblin vor dem Berliner Lyceum. Döblin berichtete später, Luscher habe ihm aufgelauert und ihm von einer literarischen Idee erzählt, sei aber, nachdem diesem Einfall Wertlosigkeit attestiert wurde, aggressiv geworden. In der darauf folgenden Rauferei nahm Döblin keinen Schaden, Luscher hingegen musste mit schwersten Kopf- und Brustverletzungen (die er sich nach Augenzeugenberichten während der Prügelei aus Versehen selbst zugefügt hatte) ins Städtische Krankenhaus am Urban eingeliefert werden. Nach der Behandlung seiner Verletzungen wurde Luscher in die Städtische Irrenanstalt in Buch verlegt.

Als er dort im November 1929 entlassen wird, hat er alles verloren: völlig mittellos, von Künstlerkollegen verlacht und geächtet, von seiner Frau und den Söhnen verlassen – Luscher war auf dem Tiefpunkt angekommen.

Christian Luscher mit Adolf Hitler (Serviervorschlag)

Luscher und Brecht (rechts), um 1925

Im Jahre 1934 versuchte Luscher, sich den Nazis als Vorzeigekünstler anzudienen; er wies sich selbst als Schauspieler aus. Das Vorsprechen am Staatlichen Schauspielhaus im Beisein von Gustaf Gründgens und Hermann Göring verlief desaströs. Um progressiv zu wirken, deklamierte Luscher Hamlets fünften Monolog nackt, während er mit der linken Hand masturbierte und mit der rechten eine mit einem Strampelanzug bekleidete Katze über seinem Kopfe schwenkte. Luscher musste aus Deutschland fliehen und reiste über Zürich, Paris, Nanking und Perros nach Santa Monica, Los Angeles in den USA.

Mit Adolf Hitler (Serviervorschlag)

Mit Adolf Hitler (Serviervorschlag)

Dort lernte er die Schauspielerin Gretchen Gordon-Deckson kennen und verliebte sich augenblicklich in sie. Zwei Monate später, im August 1936, kam Sohn Euphorion auf die Welt. Euphorion gehörte ebenfalls zu den ungeliebten Söhnen Luschers und wurde bald darauf vom Vater verstoßen.

Hier ein Wort zu den Söhnen Christian Luschers: Madeleine „Törtchen“ Luschmann ließ seinen Namen in Jean-Pierre ändern und schloss sich unter dem Titel „biegsamster Artist aller Zeiten“ einem ungarischen Wanderzirkus an. Von ihm ist nur bekannt, dass er seinen Körper dergestalt in sich verschlingen konnte, dass er, mit dem Kopf zwischen seinen Beinen hindurch nach oben, sich selbst einen Kuss auf den Mund geben konnte. Über Jahre hinweg verlor sich seine Spur, bis 1958 eine Leiche, die man nahe Utrecht in einem Straßengraben fand, eindeutig als Jean-Pierre Luschmann identifiziert werden konnte. Er hatte versucht, ganz in sein eigenes Gesäß zu kriechen und war, nachdem er dies tatsächlich bewerkstelligt hatte, darin erstickt.

Mit seinen Schulfreunden Kalle Pöttering (links) und Ede Metzenreitter (rechts)

Mit seinen Schulfreunden Kalle Pöttering (links) und Ede Metzenreitter (rechts)

Carlos Luschmann Junior indes wandte sich der Theologie zu. Uns ist ein Briefwechsel zwischen Carlos Jr. und seinem Vater Christian Luscher überliefert, in denen letzterer die Neigungen seines Sohnes vehement geißelt. Man nimmt an, dass die Missbilligung des Vaters dazu geführt hat, dass Carlos Luschmann sich 1936 mit einer Überdosis Weihrauch selbst tötete.

Clyde Luschmanns erste Liebe galt dem Tanz; er wurde Ballettänzer und als solcher bei einem Aufenthalt in Paris von Sergei Djagilew entdeckt, der zusagte, den Achtjährigen auszubilden. Leider wurde dies vom frühen Tode Clydes verhindert: Nachdem er von seinem Vater zum Geburtstag eine Postkarte mit dem Inhalt: „Glückwunsch zum Geburtstag. Ich verachte dich. Vati.“ erhalten hatte, stürzte Clyde Luschmann sich am Morgen des 28. Oktober 1928 aus dem Fenster seines Apartments in Venedig und ertrank in der Gracht, oder wie die Dinger heißen.

Mit Lou Salomé und Friedrich Nietzsche (2008)

Mit Lou Salomé und Friedrich Nietzsche (2008)

Euphorion Luscher (*1936) war ein Kind von sportlicher Natur und lernte, da er ab dem Alter von zwei Jahren allein in der Gosse zurechtkommen musste, das Ringen. Um 1940 trat er unter dem Namen „The Black Luscher“ einer Gruppe von Catchern bei, die auf Jahrmärkten im Süden der USA Schaukämpfe lieferten. Bald hatte sich der „Black Luscher“ in der amerikanischen Liga emporgewrestelt und gewann 1951 den Meistertitel in der Disziplin „Dicken Mann mit dem Gesicht auf den Boden hauen“. In einer offiziellen Stellungnahme widmete Euphorion den Sieg seinem Vater, was diesen veranlasste, sich gegenüber Reportern von der von ihm als „Quatsch“ empfundenen Sportart, dem Titel und seinem Sohne scharf zu distanzieren. Euphorion war über diese Ablehnung sehr verzweifelt und beendete sein Leben, indem er im November 1951 einen Schnellzug in die Luft warf und sich von ihm erdrücken ließ.

Besuch bei Evelyn Hamann (links)

Besuch bei Evelyn Hamann (2004)

Zurück zum Leben Christian Luschers. Dieser musste Anfang der Vierziger Jahre feststellen, dass ihm sein Erzfeind Bertolt Brecht nach Amerika gefolgt war und sogar in seiner Nachbarschaft wohnte. Außer sich vor Zorn über Brechts Erfolg und Fähigkeiten begann Luscher, in der Umgebung üble Gerüchte zu streuen, was dazu führte, dass Brecht sich nicht, wie ursprünglich von ihm geplant, als Drehbuchschreiber etablieren konnte, schließlich sogar vor das Komitee für unamerikanische Aktivitäten geladen wurde und aus den USA fliehen musste. Luscher lachte sich ins Fäustchen, vor allem, als Brecht die Einreise nach Westdeutschland verweigert wurde, was Luscher dazu veranlasste, selbst wieder nach Deutschland zu fahren, um Brecht zu demütigen. Seit den Fünfziger Jahren ist es still um Christian Luscher geworden, der seit jener Zeit das Leben und seinen schwindenden Ruhm in einer bescheidenen Wohnung in Hamburg auskostet.

Treffen mit Otto Graf Lambsdorff (1996)

Treffen mit Otto Graf Lambsdorff (1996)